Vergessene Bürgerinnen


Vergessene Bürgerinnen


Veröffentlicht am 05. Februar 2021


Anlässlich des Frauenkampftags haben die drei Autorinnen, Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung, einen Offenen Brief an die Parteivorsitzenden der Linken, der Grünen und der SPD adressiert, der von 37 säkularen Frauen mitunterzeichnet wurde. Eine Antwort von den Grünen kam nach acht Monaten.



Sehr geehrte Frau Annalena Baerbock, sehr geehrte Frau Ricarda Lang, sehr geehrter Herr Robert Habeck,


vielen Dank für Ihre Antwort auf unseren offenen Brief. Wir hatten nach so vielen Monaten des Schweigens keine Reaktion mehr erwartet. Ausdrücklich erkennen wir Ihr Engagement an, allen hier in Deutschland lebenden Menschen gem. Art. 3 GG zur Geltung zu verhelfen. Die demokratischen und rechtsstaatlichen Kriterien sind Voraussetzung, sie gelten uneingeschränkt für alle, wie auch die Gleichberechtigung der Geschlechter, unabhängig von ihrer Herkunft, Kultur, sexueller Orientierung oder Religion. Es ist unsere Verfassung, die die Bevorzugung und Benachteiligung von Menschen aufgrund bestimmter Eigenschaften verbietet.


Mit unserem Offenen Brief hatten wir Sie auf gesellschaftliche Missstände hingewiesen, da Bündnis 90/Die Grünen für uns die Partei war, die am ehesten die „Politik des Gehörtwerdens“ praktiziert, wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann das in seinem Buch „Worauf wir uns verlassen wollen“ postuliert. Ihm geht es darum, dass Menschen sich aktiv in die Politik „einmischen – zum Teil auch in sehr zugespitzter Weise“, denn „dort, wo sie sich abwenden von der res publica, den öffentlichen Angelegenheiten“, sei die Demokratie in Gefahr.


Konkret sehen wir in Ihren Bemühungen, die islamischen Religionsgemeinschaften nach deutschem Recht im Sinne der christlichen Kirchen zu institutionalisieren, eine Gefahr für unser Gemeinwesen. Zwar darf hierzulande jeder Mensch seinen Glauben leben, allerdings im Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Und Religionsfreiheit gibt es ausschließlich unter und nicht über dem Gesetz. Auf den Islam angewendet, kann man sich nicht einerseits auf die Glaubensfreiheit des Grundgesetzes berufen und sie andrerseits gleichzeitig so auslegen, dass Gläubige sich der Umma, der islamischen Gemeinschaft, unterordnen müssen und sich bedingungslos deren religiösen und rechtlichen Normen gegenüber zu unterwerfen haben. Denn die Gesetze des Staates, in dem Gläubige leben, sollten über denen ihrer Religionsgemeinschaft stehen. Danach steht außer Zweifel, dass auch der Islam sich der freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung anpassen muss, wenn er als „staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften“ agieren will.


Täglich mehren sich Geschichten von Ehrenmorden, von zuhause eingesperrten Mädchen, von verstoßenen und misshandelten Töchtern, von gegen ihren Willen verheirateten Frauen, die sich nicht trauen oder es nicht schaffen, ihrer Community zu entkommen. Moscheegemeinden, Islamverbände oder religiöse Kulturvereine relativieren oder verschweigen solche Übergriffe in das Selbstbestimmungsrecht von Mädchen und Frauen durch eben dieses religiöse oder kulturelle Kollektiv. Die Politik erwähnt solche Vorfälle pflichtschuldigst und eher am Rande von Frauengedenk- und Aktionstagen. Dabei beherbergen die Schutzhäuser für Frauen, Mitte der 1970er Jahre als Sicherheit für Frauen in Deutschland eingerichtet, inzwischen überwiegend muslimisch sozialisierte Migrantinnen und deren Kinder, aus Kulturkreisen, die so weiteren Drangsalierungen entgehen.


Als universalistische Feministinnen fehlt uns, nicht nur bei Ihnen, eine Trennung zwischen dem individuellen spirituellen und dem kollektivistischen politisch-ideologischen Islam. Nur durch diese nicht vorhandene Differenzierung passiert es, dass Kinderrechte und Frauenrechte zur Immunisierung eines Kollektives ignoriert werden. Diese müssen für alle gleichermaßen gelten, ungeachtet der Herkunft, der religiösen Überzeugung oder kulturellen Zugehörigkeit. Identität ist kein starres Konzept, das von der Familie, von der religiösen oder von der kulturellen Gemeinschaft vorgeschrieben werden kann. Identität ist eine persönliche Entscheidung und ein individueller Prozess. Jeder Versuch aus der Gemeinschaft auszusteigen und in der Gesamtgesellschaft teilzuhaben ist derzeit für insbesondere muslimisch sozialisierte Migrant_innen erschwert. Denn heute ist das Kollektiv, dem tatsächlich zu schützenden Individuum, vorgestellt. Und eben auf diese Ungleichheiten wollten wir Sie aufmerksam machen.


Als säkulare Feministinnen mit einer islamischen Sozialisations- und Migrationsgeschichte haben wir uns an Sie gewandt, da Bündnis 90/Die Grünen bisher die politische Organisation war, die auch ein feministisches Profil hatte. Wir, Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung, glaubten an ein „Gehörtwerden“ unserer Anliegen, dass z.B. muslimische Mädchen und Frauen durch islamistische Kleidungsvorschriften geschlechtsspezifischen Diskriminierungen ausgesetzt sind, die eine gleichberechtigte Teilhabe an Kultur- oder Sportveranstaltungen verunmöglichen. Das behindert die Integration von Mädchen in unsere politische Kultur und unser Rechtssystem bereits im Kindes- und Jugendalter durch ein patriarchalisches Weltbild.

Die Mehrheitsgesellschaft, auf diese Verhaltensweisen hingewiesen, bemüht hier gerne die zur Phrase verkommene Bezeichnung „Kulturelle Bereicherung“, gespeist durch archaische Denkmuster und antiquierte Frauenbilder, Traditionen und überhöhte religiöse Vorstellungen, der mit mehr Verständnis und Toleranz begegnet werden müsse. Mit den Werten der Verfassung sind sie jedoch nicht vereinbar. Es gibt zwar ein Recht auf eine eigene Meinung, nicht aber eines auf eigene Fakten.


Wir, Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung, führen unseren Einsatz für die Gleichheit aller Menschen fort. Wir werden uns von politischen Entwicklungen nicht beirren lassen und weiterhin an unseren feministischen, universalistischen und säkularen Prinzipien halten.



Mit säkularen Grüßen

Naïla Chikhi, Monireh Kazemi und Fatma Keser

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