Sehr geehrte Frau Dr. Gräfin zu Solms-Wildenfels,
Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Ghafari,
Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Schröter,
Sehr geehrte Damen und Herren,
herzlichsten Dank, dass wir heute hier sein dürfen, um den Menschenrechtspreis der Ingrid zu Solms-Stiftung 2021 entgegen zu nehmen.
Wir, Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung, sind Frauen unterschiedlicher Herkunft, die die islamistische Ideologie am eigenen Leib erfahren haben. Wir kennen ihre Gewalt. Sie ist verbal, psychisch und physisch. In unseren Herkunftsländern ist der islamistisch motivierte Frauenhass sowohl auf staatlicher und somit auf juristischer Ebene durch Gesetze, die Frauen entmündigen, als auch auf gesellschaftlicher Ebene manifest. So waren wir gezwungen, unsere Geburtsländer, unsere Freund_innen, unsere Familie und alles, was unser Leben ausgemacht hat, zu verlassen.
In Deutschland angekommen, war es nicht leicht sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Zunächst mussten wir lernen, unsere Vergangenheit zu verarbeiten, um unseren neuen Alltag selbst zu gestalten, fern von einem stets kontrollierenden Kollektiv.
Wir haben gelernt, unsere individuellen Fähigkeiten zu erkennen und uns schließlich in einem für uns völlig neuen System zurechtzufinden, in einem demokratischen Rechtsstaat. Dank der Unterstützung vieler Weggefährt_innen sind wir vorwärts gekommen und haben uns von patriarchalen und fundamentalistischen Dogmen und Normen emanzipiert.
Bei jeder Sicherheitskontrolle am Flughafen wird Naïla Chikhi an ihre Vergangenheit erinnert, wenn die Bombensplitter in ihrem Körper Alarm auslösen, und weiß, dass ihre Vergangenheit Gegenwart für viele ist.
So vergessen wir nicht, dass noch unzählige Mädchen und Frauen in unseren Geburtsländern weiterhin unter der Tyrannei fundamentalistischer Kräfte leiden. Aus der Ferne verfolgen wir den Widerstand dieser unerschrockenen Menschen- und Frauenrechtlerinnen, wie etwa den der Algerierin Amira Bouraoui, der Iranerin Nasrin Sotudeh, der Saudi Loujain Al-Hathloul, der Sudanesin Alla Salah, den Widerstand der kurdischen Heldinnen, wie etwa der Kommandeurinnen Rojda Felat oder Nesrin Abdullah, die gegen Daesch kämpfen oder auch die erste und jüngste weibliche Bürgermeisterin Afghanistans Frau Zarifa Ghafari.
Heute werden wir gleich zweifach geehrt: Mit unermesslicher Freude und Dankbarkeit erhalten wir den Menschenrechtspreis der Ingrid zu Solms-Stiftung 2021 und das auch noch am selben Tag wie Frau Zarifa Ghafari, Trägerin desselben Preises von 2020.
Als junges Mädchen haben Sie, Frau Ghafari, eine bemerkenswerte Stärke und Willenskraft gezeigt, indem Sie einen einstündigen Fußweg bis zur Schule hinterlegten - dem Ort des befreienden Wissens. Als Frau haben Sie Entschlossenheit gezeigt, indem Sie sich nicht scheuten, der von den fundamentalistischen Taliban auferlegten patriarchalen Ordnung die Stirn zu bieten und Ihr Bürgerrecht aktiv auszuüben - und das trotz unmittelbarer Drohungen.
Für uns sind Sie eine Inspiration. Im Namen der Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung sprechen wir Ihnen, Frau Ghafari, unseren tiefsten Respekt, unsere Bewunderung und unsere bedingungslose Solidarität aus.
Auch wollen wir nicht bei der Verarbeitung unserer Geschichte aufhören. Wir sind keine Opfer geblieben, sondern haben Kraft und Selbstbewusstsein aus unseren Erfahrungen geschöpft. Es gibt Mädchen in Deutschland, die wie Fatma Keser, ihrer besten Freundin nicht erzählen können, dass sie verliebt sind. Denn wenn die Freundin sie verrät, droht ihnen unermessliche Gefahr.
So wissen wir, dass in Deutschland, unserem Aufnahmeland, noch zu viele Mädchen und Frauen weiterhin an archaischen Normen gefesselt sind, wie etwa der sog. Schamkultur, der Geschlechtertrennung oder Zwangsverheiratungen. Die Beseitigung dieser bedauerlicherweise auch hier in Deutschland existierenden geschlechtsspezifischen Gewaltformen motiviert unser Engagement.
Für die Mädchen und Frauen, die sich entscheiden, aus ihren Gemeinschaften auszubrechen, weil sie ihre individuellen Freiheiten grundlegend einschränken, wollen wir, die Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung, diese offene Tür sein, durch die sie mit Vertrauen und Sicherheit gehen können, um sich voll in unserer Gesellschaft, IHRER Gesellschaft, zu entfalten. Konkret heißt das: Dieser Preis ermöglicht uns, die Grundsteine für unsere Aufklärungsarbeit zu legen.
Für diese Mädchen und Frauen wollen wir aber auch eine unabhängige politische Stimme sein. Ungeachtet religiöser Überzeugung, Weltanschauung oder kultureller Zugehörigkeit wollen wir, als säkulare und universale Feministinnen, für Mädchen und Frauen gefährliche Praktiken, wie etwa den Jungfernkult, das Kinderkopftuch und die Vollverschleierung öffentlich machen und ihre Auswirkungen auf unsere Gesamtgesellschaft analysieren und die politischen EntscheidungsträgerInnen auffordern, ihnen dezidiert entgegenzuwirken.
Auf akademischer Ebene haben wir in Frau Prof. Dr. Susanne Schröter eine tatkräftige und fachkundige Unterstützerin gefunden. Mit Ihrer wissenschaftlichen Forschung und Ihren sachlichen Beiträgen zum Thema politischer Islam leisten Sie, sehr geehrte Frau Prof. Dr. Schröter, eine äußerst wichtige Aufklärungsarbeit über eine religiös-fundierte politische Bewegung, deren erste Opfer muslimische Mädchen und Frauen sind. Danke!
Sehr geehrte Frau Dr. Gräfin zu Solms-Wildenfels, mit diesem Preis setzen Sie ein starkes Zeichen: Echte Frauensolidarität durchbricht jegliche patriarchale Festung, ob ihre Fundamente kulturell, ethnisch oder religiös untermauert sind.
Wie viele Feministinnen, die den Finger in die Wunde legen, werden wir nicht selten aufgrund unserer säkularen und egalitären Positionen sowohl von unseren eigenen Gemeinschaften als auch von identitätspolitischen Gruppen angefeindet. Wir bekommen aber auch sehr oft Unterstützung und Zustimmung für unsere Ansichten, allerdings eher hinter den Kulissen. Nicht selten bekommen wir zu hören: "Ihr Engagement ist großartig. Wir teilen Ihre Meinung, aber wir können sie niemals öffentlich äußern. Man würde uns sofort in die rechte Ecke drängen“.
Sehr geehrte Frau Dr. Gräfin zu Solms-Wildenfels, Sie wissen selbst, dass wir uns mit sehr sensiblen und kontroversen feministischen und politischen Themen befassen und das zu einer Zeit, in der unsere Gesellschaft sich zunehmend spaltet. Und dennoch haben Sie und Ihre Stiftung sich entschieden, uns mit diesem Preis zu ehren. Wir betrachten dies als souverän, kühn und weitsichtig. Qualitäten, die jede universalistische Feministin auszeichnet.
Sehr geehrte Frau Dr. Gräfin zu Solms-Wildenfels, Sie haben uns kennengelernt. Sie haben sich mit unseren Ansichten befasst. Sie haben sich vergewissert, dass wir uns für die universellen Freiheitsrechte einsetzen - sonst wären wir heute nicht hier. Manchmal haben Sie uns zugestimmt. Manchmal haben Sie uns widersprochen. Und manchmal haben Sie mehrfach nachgefragt, um genau zu verstehen, was wir und warum wir etwas meinen. Das ist Dialog auf Augenhöhe. Das ist Debattenkultur. Und genau das wollen wir mit unserer politischen Arbeit in den Diskussionen um Integration und Frauenrechte verteidigen.
„Sawt el mar´a thawra“ ist das Motto vieler arabischen Feministinnen, es bedeutet „Die Stimme der Frauen ist (die Stimme der) Revolution“. Wir schließen uns diesem Motto für das Voranschreiten der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann auch in unserem säkularen demokratischen Staat ein, denn die universellen Menschenrechte für die Frau sind unteilbar und unverhandelbar.
Vielen herzlichen Dank